DER WYLER-TOUCH – EIN KOLLOQUIUM IN MULHOUSE

Noch nicht ganz am Ende des William-Wyler-Jahres in seiner Geburtsstadt anlässlich seines 120. Geburtstages 2022 durfte ich eine Einladung zu einem Kolloquium annehmen. „Viel wirst Du nicht lernen“, begrüßte mich Organisator, Teilnehmer und Wyler-Biograph Jean Walker. Das war schmeichelhaft – und falsch.

 

Am Set von BEN-HUR (1959) – Das Wagenrennen.

 

 

Nicolas Beauchef und Laurence Frossard (Stadtverwaltung) im Saal William Wyler.

 

 

 

„Regards croisés sur la Wyler Touch“, also einander kreuzende Blickwinkel sollten es werden, über einen Regisseur, dem trotz seiner Erfolge nicht sofort ein Touch attestiert wird. Aber diesen hat das Werk des Mannes, der in allen Genres zu Hause und ein Freund der jeweils auch stilistisch neuen Herangehensweise war. Sich ihm anzunähern, versuchte das Kolloquium auf neue Weise mit vier Vorträgen à 45 Minuten, einem Film, einer Diskussion und noch ein paar Bonbons. Geladen wurde in den nach Wyler benannten Kinosaal im Cinéma Bel Air – schön, dass eine ca. 110.000 Einwohner zählende Stadt noch ein Nischenkino jenseits des Zentrums hat, in dem man sich der Filmkunst widmet. Walker gelang in seiner Einführung mit wunderschönem Bild- und Plakatmaterial eine Reise durch Leben und Werk, auch Wylers Kindheit und Jugend inklusive nahegelegener Orte einbeziehend. Trotz größter Vollständigkeit nie gehetzt, und immer noch mit der einen oder anderen Anekdote am Rande, die nicht jeder Wyler-Fan kennt. Walker erwähnte selbst Filme, die Wyler nur beinahe gemacht hätte. Dass Letzterer beispielsweise bei INTERMEZZO (1939), einem Film des hyperkontrollierenden und sein Publikum für unreif haltenden Produzenten David O. Selznick, ausgestiegen war, konnte ihn glücklich machen und tat es zu Recht auch nach Sichtung des Filmes.

Wäsche- und Aussteuergeschäft von William Wylers Vater Leopold, Wildemannstrasse 18 (heute 22 Rue du Sauvage) – Vortrag Jean Walker, Cinéma Bel Air, Salle William Wyler, © Familie Wyler.

William Wyler und Carl Laemmle.

Geburtsort William Wylers, 15 Rue de Zurich.

Promenade William Wyler.

Fresko William Wyler, 18 Avenue du Président Kennedy.

Anschließend referierte Dorian Merten, Doktorand an der Universität Strasbourg, unter dem Titel „Major Wyler, Kartograf eines anderen Planeten“. Unterstützt durch historische Aufnahmen und Ausschnitte aus Wylers Kriegsdokumentationen THE MEMPHIS BELLE – A STORY OF A FLYING FORTRESS (1944) und THUNDERBOLT (1947), legte er die geschichtliche Entwicklung von Luftaufnahmen und Kartografie und vor allem die Bedeutung Letzterer in Wylers Dokumentarfilmen dar. Dies auch mit Frank Capras WHY WE FIGHT-Serie (1942-1945) vergleichend, aber über die filmische Dimension hinausgehend, kam er zu dem Zwischenergebnis, dass man im Leben den Weg „von der Realität zur Karte“ wählt (denn wie soll man Karten sonst erstellen?), aber Wyler „von der Karte zur Realität“ geht. Dies münde in die „Paradoxie des kartografischen Erzählens“: Karten, in den genannten Filmen mit Animationssequenzen garniert, blicken nach vorn statt zurück, verdeutlichen den Soldaten wie den Zuschauern, was das Ziel einer bevorstehenden Operation ist. Und damit drehe sich nicht nur die Zeitachse um, sondern werde die Karte ein aktives Element der Narration. Oder realer Geschichte, was Merten durch den propagandistischen Einsatz von auch mal absichtlich ungenauer Kartografie unterstrich. Weit über ein Wyler-Fan-Gespräch hinausgehend, anspruchsvoll, aber ansprechend statt trocken.

 

Tagungsprogramm – Titelseite.

Nach einem Vortrag, in dem Jean-François Pey (Prof. für moderne Literatur und Filmdozent an der Universität Strasbourg, Drehbuchautor und Videokünstler) Wylers Wirken in Bezug zu den jeweiligen Studios setzte und selbstredend Verbindungslinien herstellte, konnten wir das Zünden eines rhetorischen und inhaltlichen Feuerwerks erleben. Wenn Michel Cieutat spricht, ist Power Point nicht mehr nötig! Cieutat ist emeritierter Professor für die US-Filmgeschichte an der Universität Strasbourg, Filmpublizist und -journalist, unter anderem für die renommierte, seit 1952 existierende französische Filmzeitschrift „Positif“. „De la non-direction d’acteurs selon William Wyler, also etwas provokant von Wylers Nicht-Anleitung seiner Darsteller handelte der Vortrag, in dem sich Cieutat auch gleich in die verschiedenen Beteiligten geschickt ausgewählter Ereignisse hineinversetze, sie fast nachspielte. Begeistert und begeisternd, mitreißend statt affektiert.

 

Und mit einem Fazit à point! Wenn Wyler unzählige Takes verlangte, aber nur selten kommentierte, was die Mimen beibehalten, weglassen oder verbessern mögen, war er fordernd und wertschätzend zugleich. Weder hielt er Schauspieler für Vieh (eine Hitchcock zugeschriebene Aussage) noch stauchte er sie über Gebühr zusammen (hier nannte er Fritz Lang, über den man insoweit aber streiten kann; Otto Preminger soll hingegen ein wahrer Choleriker gewesen sein). Aber Wyler sah sich umgekehrt auch nicht als Mastermind, der Darsteller nach Gusto formte. Stattdessen, eine (nur scheinbare) Paradoxie, hielt er große Stücke auf sie, nahm sie aber gleichzeitig so sehr für voll, dass sie selbst erkennen sollten, wie sie das Beste aus sich herausholten. Das Nicht-Anleiten also als Nicht-Anleinen, die Geduldsproben als Respekt vor ihrer Kunst und vor ihrem Können. Bekanntermaßen gaben zahlreiche Oscars für Wyler-Darsteller dem Mann, aber auch den Schauspielern recht. Ein Schlüssel zum Wyler-Touch. Bemerkenswert, dass Cieutat auf begleitende Vortragsfolien verzichtete, aber nicht auf Filmausschnitte, und zwar aus BEN HUR (1959). Ein Wyler-Film, der manchen, auch bislang mir, als zwar gut, aber weniger subtil gegenüber anderen gilt bzw. galt. Dies konnte Cieutat an kleinsten optischen wie akustischen Details widerlegen und mit seinem beeindruckenden Wissen nachweisen, dass diese nicht zufällig in den Film geraten waren. Es gibt nicht nur das Wagenrennen!

v.l.n.r.: Tonio Klein, Jean Walker (Referent und Biograph William Wylers), Laurence Frossard, Claudia Meschede (Stadtverwaltung) im Restaurant Hug, 11 Rue du Sauvage, ggü. Leopold Wylers ehemaligem Geschäft (à 04), dessen Haus aber nicht mehr existiert.

Als erstes Extra wies Walker uns auf einen wenig (und bis dato auch mir nicht) bekannten Anschlussfehler in DIE BESTEN JAHRE UNSERES LEBENS (The Best Years of Our Lives – 1946) hin, in einer berühmten, sich in drei Tiefenebenen aufgliedernden Bar-Szene. Auch bei mehrmaligem Sehen schwer zu finden: Nachdem Hoagy Carmichael und Harold Russell (der beide Hände durch eine Explosion verloren hatte und nun einen Kriegsversehrten mit Greifzangen spielte) ein vierhändiges Klavierstück zum Besten gegeben haben, beginnt ein Barbesucher etwas zu früh und ohne Ton zu applaudieren, wohingegen nach dem Schnitt der Applaus wieder von Neuem und dann mit Ton beginnt (am linken Bildrand).

v.l.n.r.: Rémi Ressel, Michel Cieutat, Pierre-Louis Céréja, Dorian Merten, Laurent Vonna, Jean Walker, Anne-Catherine Goetz, Tonio Klein.

Nach der Vorführung von EIN HERZ UND EINE KRONE (Roman Holiday – 1953) inkl. Einführung durch Walker – bei dem Film lässt sich selbst nach zigmaligem Sehen noch Neues erhaschen, und sei es der Slip einer Gespielin des von Eddie Albert gespielten Sidekicks – folgte eine Diskussion mit aus Strasbourg angereisten Filmstudenten und den Referenten. Bemerkt wurde beispielsweise, wie stark Wyler Gefühle in EIN HERZ UND EINE KRONE ohne Worte ausdrückt und dass er noch in seinen unkomödiantischen Filmen kleine komische Aperçus unterbringt. Ein wichtiges Thema war zudem die Beziehung zwischen Wyler und der Nouvelle Vague, da der Regisseur besonders bei den Kritikern der „Cahiers du Cinéma“, die später als Filmemacher die Nouvelle Vague begründeten, nicht wohlgelitten war. Für die Ausgabe 151/152 der Cahiers (Dez. 1963/Jan. 1964) verfasste Claude Chabrol einen kurzen Artikel (S. 179), laut dem Wyler kalkulierte Stoffe mit aseptischer Perfektion inszeniere und nun als Dollar-Liebhaber nur noch seinen Major-Studio-Regisseursruf zu halten bestrebe. Chabrol sollte seine Wyler-Reserviertheit im Wesentlichen zeitlebens beibehalten, wie mir Walker versicherte, der mehrfach mit dem französischen Regisseur zusammengearbeitet hat. Cieutat zeigte bei aller Kritik an solchen Vorwürfen ein zeithistorisches, aufschlussreiches Verständnis, da die Nouvelle Vague häufig mit „Autorentheorie“ in Verbindung gebracht wird, aber der französische Ausdruck „politique des auteurs“ wörtlich genommen werden muss. Es war eine aktiv propagierte und gelebte Politik, ein Aufbegehren gegen festgefahrene Strukturen des französischen Films, in denen jeder vor dem Regieführen gefälligst Assistent eines extrem angesehenen Platzhirsches gewesen sein musste, so wie Jacques Becker für Jean Renoir. Das Verkrustete aufzubrechen und schon als Anfänger mutig selbst mit der Kamera in die Welt und auf die Straße zu gehen, war das Anliegen der jungen Wilden, was sie dann auch taten. Dass diese Männer einem Hollywoodveteranen, der mit großen Budgets und Teams hantierte, reserviert gegenüberstanden, ist verständlich. Ironie der Geschichte: Wyler, 1902 geboren, lernte ab 1925 das Regieführen bei der und durch die Regie von Billigwestern. Chabrol, 1930 geboren, konnte für seinen Erstling DIE ENTTÄUSCHTEN (Le beau Serge – 1958) auf den Wohlstand seiner ersten Ehefrau zurückgreifen.

Die Diskutanten zeigten eine große Bewunderung für Regisseure, welche nicht wie Alfred Hitchcock auf Genre, Thema, Stil festgelegt sind – und eben beim zweiten Blick doch eine Handschrift haben, wenngleich im Falle Wylers dieser Touch nicht an einem dreiviertel Tag dingfest gemacht werden kann. Aber ist es nicht interessanter, wenn dies schwierig ist und ein Forum gleichzeitig eine Annäherung und eine Erweiterung des Blicks bietet? Cieutat war übrigens sehr einverstanden mit Peys Nennung von Sidney Lumet als Parallelfall, welcher dem Kino ein halbes Jahrhundert lang (1957-2007, und wie hat sich das Medium da verändert!) ein vielfältiges und vielschichtiges Werk schenkte, aber bei der Kritik nicht immer beliebt war. Auch er hatte seinen Touch, der nicht mit der Tür ins Haus fiel.

 

Als zweites Extra holte Walker Wylers erstgeborene Tochter Catherine ans Bildtelefon, die den Studenten so freundlich wie lebendig Auskunft gab. Selbstredend auf Französisch – das Erlernen dieser Sprache hatten schon William Wylers Eltern (Mutter Deutsche, Vater deutschsprachiger Schweizer) hochgehalten, was er seinen Kindern weitergab. Hier ging es mehr um Privates, wobei Catherine nicht nur als Tochter berichten kann, sondern selbst Filmproduzentin ist und sich schon mehrfach darum gekümmert hat, dass das Werk ihres Vaters nicht in Vergessenheit gerät – so im in Ausschnitten präsentierten Dokumentarfilm DIRECTED BY WILLIAM WYLER (1986).

Eine bereichernde Veranstaltung, wunderbar von Jean Walker und der Stadt organisiert, hier sei pars pro toto Kulturbürgermeisterin Anne-Catherine Goetz genannt. Mein persönlicher Dank gilt zudem den Mitarbeitern Laurence Frossard, Nicolas Beauchef und Claudia Meschede für die Einladung und den herzlichen Empfang.

Prof. Dr. Tonio Klein

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