DER STUMMFILM LEBT!

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Der Stummfilm feiert weltweit eine Renaissance, wie sie so wohl niemand voraussagen konnte. Waren es in Deutschland bisher überwiegend Großstädte wie Hamburg und Berlin, die mit fast vergessenem Kulturgut Kinosäle füllen konnten, hat es sich nun auch in Saarbrücken – der Kulturhauptstadt im Südwesten – herumgesprochen, dass hier etwas sehr Beachtenswertes passiert.

Viele Jahre haben sich Kinobetreiber und Liebhaber der stillen Klassiker um Wiederaufführungen bemüht. Und genau so viele Jahre war man froh, wenn dann bei Filmen wie KINDERGESICHTER oder SCHATTEN 2 bis 30 Menschen ins Kino kamen. Filme, die es durchaus verdient hätten nach ca. 100 Jahren ein breiteres Publikum zu bekommen. Der etwas schwächere PICCADILLY – NACHTWELT von 1929 hat aber nun etwas sehr außergewöhnliches vollbracht: Ca. 70 Zuschauer – ausverkauftes Haus – und das bei schönstem Biergartenwetter und notwendigem Sitzfleisch von fast 2,5 Stunden.

So etwas hat man im FILMHAUS SAARBRÜCKEN wohl auch selten erleben dürfen. Endlich der Lohn für das jahrelange Bemühen des Verantwortlichen Michael Jurich. Welche Faktoren dies herbeigeführt haben, lässt sich nur vermuten. Kamen die Leute wegen des Rahmenprogramms, welches aus der Live-Musik-Performance von Joachim Fontaine (Klavier) und Noémi Schröder (Gesang) bestand, oder wegen des Films? Lag es an der Facebook-Werbung, die 35 MILLIMETER noch kurz vor dem Termin geschaltet hat? Hat sich ein Bus voller Senioren einfach verfahren und wollte eigentlich eine Lederjacken-Verkaufsshow besuchen? Fragen über Fragen.

Besonders hervorheben möchte ich hier aber Joachim Fontaine, der erneut in einem konditionellen Kraftakt ungeahnte Steherqualitäten bewiesen hat. Neben den vier – mit sehr viel Charme – dargebotenen Liedern von Noémi Schröder, musste er noch 108 Minuten Film musikalisch begleiten. Da ist es mehr als verständlich und auch zu verzeihen, dass es beim Umblättern der Noten mal zu ein paar länger gezogenen Tönen kam. Aber selbst das passte wunderbar in den gesamten Abend. Auch der Film hatte mit einigen Längen zu kämpfen. Alleine die letzten 30 Minuten retteten den Streifen dann noch leicht über den üblichen Durchschnitt seiner Zeit. Nach einer Stunde hatte ich noch den Gedanken „Nun ja, nettes Zeitdokument“. Als die Stimmung des Filmes aber in die Dramatik eines Krimis inklusive des Spannungsbogens eines Gerichtsthrillers kippte, war ich dann am Ende doch versöhnt.

Noémi Schröder brachte den wohl jüngsten Zuhörer des Abends gleich selbst mit. Wie schön, dass auch die nächste Generation (wenn auch noch ungeboren) an den Stummfilm herangeführt wird. Und obwohl schwanger und erkältet – wobei sie sich nur für zweites entschuldigte – stimmte sie das Publikum auf einen wirklich gelungenen Abend ein. So ungefähr muss es sich also in den „wilden 20ern“ angefühlt haben, wenn der neuste Filmstreifen zum ersten Mal auf einer Leinwand zu sehen war. Überfüllte Säle, Klappstühle, die Letzten sitzen auf dem Boden, der Mann am Klavier haut wie ein Wahnsinniger in die Tasten, die Chanson-Sängerin glänzt im Abendkleid – es fehlten nur die Rauchschwaden, auf die aber alle Anwesenden gut verzichten konnten.

Danke für diesen Abend Herr Jurich. Wir freuen uns schon jetzt auf die nächste Vorstellung von Murnaus CITY GIRL.

PICCADILLY – NACHTWELT lief in seiner von arte restaurierten Fassung, die 2003 zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die dazu passende DVD gibt es in der arte-Stummfilm Edition von absolut MEDIEN.

Für 35 MILLIMETER
Jörg Mathieu

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