Der Kuss und der Andere
Fatale, leidenschaftliche, entfremdete, beobachtete und keine Küsse im italienischen Kino.
Der Kuss ist ein sichtbarer Zeitsprung, um den in Filmen oft alles kreist, der Antrieb und Ziel ist, der aber auch zum Gefängnis werden kann. Im italienischen Nachkriegskino (insbesondere in der Folgegeneration des Neorealismus) entfremdet sich die romantische Bedeutung von Küssen, sie werden zur Last, zur Bedrohung, zunächst für den Anderen, den Dritten, der den Kuss beobachtet, dann aber vornehmlich für die Küssenden selbst, die nicht mehr an die Liebe glauben, die Schwierigkeiten haben sich ihren Gefühlen hinzugeben, die diese Gefühle weder wahrhaben wollen noch wirklich kennen. Sie wenden sich im Kuss voneinander ab, sind abgelenkt und leiden an dem, was eigentlich schön sein sollte. Die leidenschaftliche Leichtigkeit verkehrt sich in eine bedeutungsgeladene Schwere. Was bedeutet ein Kuss in der Moderne?
Die Italienerin und ihr Stolz beim Kuss
Inbegriff dieser Angst vor der Nähe, die es gar nicht geben kann, ist Monica Vitti. In den Filmen von Michelangelo Antonioni torkelt sie von einem Kuss, einer möglichen Versuchung in die Nächste. Für sie ist ein Kuss oft wie ein Griff auf die Herdplatte. Immer mit dem totalen Kollaps ihrer Nerven flirtend, lässt sie sich nicht einfach tröstend in den Arm nehmen, denn wer sie wirklich berührt, wird überschwemmt mit ihren unkontrollierten Emotionen. Im Küssen erfährt sie bereits die Angst vor dem Verlust der Liebe, aber ihre Verunsicherung ist auch Teil ihrer Anziehung, es ist ein ewiges Spiel ein hin und her. Die sich selbst hassende Kälte in den Augen von Jeanne Moreau in Die Nacht (La notte – 1961) spricht da eine andere Sprache, eine die womöglich aufgegeben hat, die sich nicht überwältigen lässt, aber gerade dadurch machtlos ist und die doch etwas verbirgt. Das Verborgene in einem Kuss ist hier oft der Grund für das Berühren der Lippen. Es ist der Versuch etwas zu erfahren, etwas zu lösen und vor allem etwas zu vergessen. Die Anmut des verweigerten Kuss, der Stolz der Frauen, die Lächerlichkeit des Mannes, all das sind Küsse im italienischen Kino.
Der Kuss als Fanal der Einsamkeit des Mannes
Die Einsamkeit des Dritten, der den Kuss sieht, ist Film. Es ist diese schmale Linie zwischen den Lippen, auf der wir die Lust am Voyeurismus, an der Empathie, an der Illusion und am Begehren empfinden. Hier sind wir selbst und sehen wie geküsst wird. Hinter all den Küssen im italienischen Kino droht immer ein katholischer Zeigefinger. Man küsst sich flüchtig nur in der Öffentlichkeit dafür wild in Nischen, der Dunkelheit und hinter Jalousien. Man küsst sich nur richtig, wenn keiner zusehen kann, als wäre der Kuss ein Refugium und doch glauben die Frauen im italienischen Nachkriegskino immer weniger an den Geschmack der Lippen von Mastroianni. Sie lieben nicht mehr. Sie sind nur noch. Und die Männer? Sie flüchten zu den warmen Küssen ihrer Mama und lassen sich verwöhnen. Bis sie bemerken, dass sie dort auch nur ein Dritter sind, ein Einsamer, zwar geliebt, aber von der Zeit davongetragen, schon seit Geburt dazu verdammt, den Zeitsprung nicht wahrhaben zu wollen, den Kuss nicht mehr zu spüren. Was bleibt ist der Todeskuss, der fatale Kuss, der sich wissend hingibt und damit zugleich aufgibt und sich dem Anderen unterwirft. Damit werden die, die mit der Liebe spielen weniger zu Eroberern als zu Sklaven, eine perverse Verdrehung, die nur ebenso fatal enden kann.
35 Millimeter Ausgabe #7 befasst sich ausgiebig mit dem CINEMA ITALIANO und seinen Protagonisten. Unser erstes eigenes VIDEOESSAY verdanken wir unserem Redakteur Patrick Holzapfel und seinem Video-Produktions-Team.
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