HERE’S LOOKING AT YOU, KID

Die enge Verbindung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Meisterwerken:

Michael Curtiz’ CASABLANCA (1942) und Terry Gilliams BRAZIL (1985)

 

„It’s still the same old story

A fight for love and glory

A case of do or die

The world will always welcome lovers

As time goes by”

(„As Time Goes By” von Herman Hupfeld)

Als Regisseur Sydney Pollack im Jahr 1990 Robert Redford gen HAVANNA (Havana) schickte, um sich dort während des kubanischen Bürgerkrieges in die Frau eines Revolutionärs zu verlieben und dabei ein gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein zu entdecken, gab es sicherlich keine einzige (meist negative) Kritik, die nicht an der einen oder anderen Stelle auf CASABLANCA zu sprechen kam, zu offensichtlich schienen die Parallelen zu sein: der exotische Handlungsort, die Besetzung eines großen Stars zusammen mit einer schwedischen Partnerin (Lena Olin), der geschichtliche Hintergrund, die Liebesgeschichte. Pollack selbst erklärte zwar drei Jahre nach dem extremen Misserfolg des Films in einem Interview mit der New York Times: „They said I was trying to rip off ‚Casablanca.‘ I wouldn’t go near ‚Casablanca‘, I’d be petrified.“ Aber noch immer gilt HAVANNA als der Film, der wie kein anderer den Versuch unternahm, die Geschichte des Oscar-Gewinners des Jahres 1943 in ihren Grundzügen neu zu erzählen. Dabei kam fünf Jahre zuvor ein Film in die Kinos, der eine viel nähere Verwandtschaft mit CASABLANCA hatte, ohne dass dies in den (meist positiven) Kritiken angesprochen wurde: Terry Gilliams BRAZIL (1985) schien Lichtjahre von dem klassischen Hollywood-Film der 40er Jahre entfernt zu sein, fast dessen Gegenentwurf: kein exotischer Handlungsort, kein Star in der Hauptrolle, keine wunderschöne Schwedin an seiner Seite, kein (zumindest halbes) Happy End. Offensichtliche Parallelen gab es zwar auch ein exotischer Ort als Titel, ein altes Lied als musikalisches Zentrum und gleichzeitig als inhaltlicher Bezugspunkt, aber diese wurden nicht weiter hinterfragt. Die beiden Filme waren einfach viel zu verschieden, und vielleicht auch wegen der enormen Unterschiede waren die Reaktionen der Produzenten auf die jeweiligen Filme so entgegengesetzt: Warner Bros. unterstütze CASABLANCA bis zum Oscar-Triumph, während Universal sich weigerte, BRAZIL in die US-Kinos zu bringen, und sogar letztendlich vergeblich versuchte, den Film mit einer alternativen Schnittfassung kommerzieller zu machen.

Heute sind beide Werke Kultfilme mit einer großen Anzahl an Bewunderern, aber es kommt weiterhin kaum vor, dass sie zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei kommen die thematischen Parallelen zwischen dem optimistischen Propagandamelodram aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der pechschwarzen Satire aus dem Dunstkreis des Orwell-Jahres zum Vorschein, wenn man Terry Gilliams visuell überbordenden Streifen auf seine inhaltliche Grundstruktur zurückführt.

 

I.

Es gibt eine offensichtliche Verbindung zwischen CASABLANCA und BRAZIL, die jedem deutlich wird, der sich Terry Gilliams Film anschaut und so mitbekommt, dass sich Sam Lowry (Jonathan Pryce) und seine Kollegen im Archiv des Informationsministeriums gerne auf ihren Computern „alte Filme“ anschauen, wenn ihnen der Abteilungsleiter Kurtzmann (Ian Holm) den Rücken zudreht. Weil dieser langsam misstrauisch wird, lässt er seine Bürotür offen, um die Untergebenen besser überwachen zu können. „I think Kurtzmann is getting suspicious“, raunt ein Kollege Sam zu, der daraufhin fragt: „What have we got on today?” Die Antwort lautet: „Casablanca.“ Der Filmfan Sam Lowry, der in seinem Apartment Bilder von Filmdiven wie Marlene Dietrich und Greta Garbo aufgehängt hat, nimmt diese Information mit der Gelassenheit eines Mannes zur Kenntnis, der diesen Film schon sehr oft gesehen hat und dem es deshalb nichts ausmacht, ihn einmal zu verpassen. Als er kurz darauf in Kurtzmanns Büro zitiert wird, ist am Ende der Szene kurz eine Instrumentalversion von „As Time Goes By“ zu hören. Schließlich hören wir bei der Verabschiedung aus dem Hintergrund die legendären Worte „Here’s looking at you, kid“, was Sam spontan unter Auslassung des Wortes „kid“ wiederholt. Hier endet die direkte Bezugnahme, und auch in der Folgezeit wird nicht mehr auf CASABLANCA eingegangen.

Man könnte nun den direkten Verweis auf CASABLANCA als eine Hommage werten, ebenso wie eine zuvor gezeigte Szene aus THE COCOANUTS (1929), dem ersten Film der Marx Brothers, die ist das wirklich ein Zufall? auch einmal EINE NACHT IN CASABLANCA (A Night in Casablanca 1946) verbrachten. Wer für diese Bezugnahme auf CASABLANCA verantwortlich war, machte Terry Gilliam 1997 in seinem Audiokommentar für die Criterion Collection öffentlich, nämlich der Dramatiker und Co-Autor Tom Stoppard: „The idea of CASABLANCA and PLAY IT AGAIN, SAM, all that came from Tom. He had that in there and I loved that. It’s the most romantic film we know basically and that was somehow playing in the back of that whole scene, that music. I love that because a lot of the people in the audience don’t even notice it but anybody who does care about films and CASABLANCA, the minute you hear those first few notes of the music you know what’s going on out there, that all the clerks are watching it. And maybe 90% of the people watching it don’t understand those references but for the ten it enriches the whole thing.” Tom Stoppard war offensichtlich ein großer Fan des Filmklassikers, denn er hat in seiner Karriere nicht nur in BRAZIL Anleihen aus CASABLANCA verwendet. So antwortete er in einem Interview mit der „Times“ im Jahre 2013 auf die Frage nach dem Ende seines erfolgreichsten, Oscar-preisgekrönten Drehbuchs zu SHAKESPEARE IN LOVE (1998): „Of course it’s not a happy ending. It’s a CASABLANCA ending.“ Und in sein Hörspiel DARKSIDE (2013) baute er Zitate aus berühmten Hollywood-Filmen wie CHINATOWN (1974) und TERMINATOR 2: TAG DER ABRECHNUNG (Terminator 2: Judgment Day 1991) ein und eben auch CASABLANCA.

 

Es war die Aufgabe Tom Stoppards, den ersten Drehbuchentwurf zu überarbeiten, den Terry Gilliam zusammen mit Charles Alverson zu Papier gebracht hatte. Darin wird von einer Welt erzählt, in der ein Kampf zwischen der Staatsmacht und Terroristen tobt. Der kleine Beamte Sam Lowry ist ein einsamer Träumer, der sich bei einer zufälligen Begegnung in die Sozialarbeiterin Jill Layton (Kim Greist) verliebt. Er findet im Ministerium heraus, dass sie überwacht und verdächtigt wird, eine Terroristin zu sein. Sein Versuch, sie durch seine Kontakte in hohe politische Kreise zu retten, scheitert jedoch. Er wird sogar selbst verhaftet und flüchtet sich schließlich in seine Phantasiewelt. Da die gemeinsame Arbeit von Gilliam und Alverson 2001 in Buchform veröffentlicht worden ist, lässt sich anhand dessen analysieren, inwieweit dort schon die geschilderten Gemeinsamkeiten zwischen CASABLANCA und BRAZIL angelegt waren, die Tom Stoppard erkannte und ausbaute. Die Zusammenfassung zeigt, dass das Spielfeld von BRAZIL schon im ersten Entwurf klar bezeichnet und auch die Rettung einer Frau als maßgeblicher Antrieb der Handlung verankert war. Darüber hinaus gibt es zwei Szenen, die bei Stoppard die Erinnerung an CASABLANCA wachgerufen haben könnten. Einmal die Szene im Restaurant, in dem es eine Explosion mit vielen Opfern gibt, was Sam und seine Begleiter aber nicht im Geringsten tangiert. Außerdem beinhaltet bereits die Urfassung des Skripts die letzte Szene des Films, in der die Köpfe der beiden Antagonisten unvermittelt im Bild auftauchen, nachdem Sam gerade noch mit Jill in einer traumhaften Idylle Zuflucht gefunden hatte.

Bezeichnenderweise macht Stoppard aus Sam Lowry einen Filmfan. So gab es im ersten Drehbuchentwurf insgesamt keine Referenzen zu alten Filmen: In der Wohnung von Sam hängen keine Fotos von weiblichen Filmstars, es werden weder im Archiv des Informationsministeriums noch in den Wohnungen der Bürger Schwarz-Weiß-Filme angeschaut. Durch diese Ergänzung wird deutlich gemacht, dass die gezeigte Gesellschaft dieselbe (filmische) Vergangenheit hat wie der Zuschauer. Stoppard geht aber darüber hinaus, indem er Sam explizit als Kenner von CASABLANCA zu erkennen gibt. Dadurch lässt sich die gesamte Handlung unter dem Aspekt sehen, dass Sam Lowry in seinem Innersten Humphrey Bogart alias Rick Blaine nachzueifern versucht und so unbewusst seinen eigenen Hollywoodfilm durchlebt, den Kampf um Liebe und Ruhm, um alles oder nichts.

 

II.

Es ist daher kein Zufall, dass BRAZIL strukturell sehr stark an das Drehbuch von Julius J. Epstein, Philip G. Epstein und Howard Koch für CASABLANCA angelehnt ist, auch wenn dieser Umstand nie offensichtlich wird, weil Tom Stoppard das Vorbild für den Handlungsverlauf bis zur Unkenntlichkeit verfremdet hat. Stoppard weist ausdrücklich auf CASABLANCA als Bezugspunkt hin, um sich dann so weit wie möglich vom Hollywoodschema zu entfernen. Doch die Ankerpunkte sind deutlich zu verorten.

1. Eine Welt im Ausnahmezustand

CASABLANCA spielt im Dezember 1941 während des Zweiten Weltkriegs in Französisch-Marokko, wo Flüchtlinge aus Europa verzweifelt versuchen, ein Flugticket nach Lissabon zu bekommen, um von dort aus nach Amerika zu emigrieren. In der Stadt regieren offiziell die Vertreter des Vichy-Regimes, aber der deutsche Major Strasser (Conrad Veidt) lässt gegenüber dem Polizeipräfekten Capitaine Louis Renault (Claude Rains) keinen Zweifel daran aufkommen, wer am Ende auch in der afrikanischen Wüste das Sagen haben wird.
BRAZIL spielt ebenfalls zur Weihnachtszeit „somewhere in the 20th century”. Auch hier herrscht Krieg, nicht gegen ein anderes Land, sondern gegen gesichtslose Terroristen, die mithilfe von Bombenanschlägen die Staatsmacht herausfordern. Der Staat reagiert auf den nicht fassbaren Feind, indem er einerseits die Sicherheitsbehörden aufrüstet und andererseits die bürgerlichen Rechte beschneidet, so dass jeder Bürger jederzeit unverschuldet in die Klauen des Staatsapparates geraten kann.

Beide Filme beginnen mit einer mehrminütigen Einleitung, in der die Hauptfiguren nicht vorkommen. Während CASABLANCA auf die Stimme eines Erzählers setzt, um die politischen Zusammenhänge zu erklären, und sodann die erste Begegnung zwischen Strasser und Renault zeigt, die über zwei getötete deutsche Kuriere reden, lässt BRAZIL den Stellvertretenden Informationsminister Eugene Helpmann (Peter Vaughan) zu Wort kommen, der in einem Interview die Sicht der Regierung auf die derzeitige Lage wiedergibt. Parallel dazu wird das Geschehen im Ministerium gezeigt, das fast zeitgleich zur fehlerhaften Verhaftung des Familienvaters Buttle (Brian Miller) führt. Der Zuschauer wird somit sowohl hinsichtlich der allgemeinen politischen Situation als auch hinsichtlich des jeweiligen Anlasses für die nachfolgenden Ereignisse in kürzester Zeit auf den aktuellen Stand gebracht.

In beiden Geschichten leben die Menschen in Polizeistaaten und werden mal zu Recht und mal zu Unrecht kurzerhand als Staatsfeinde angesehen. Vor ihren Wohnungen stehen Spitzel, die sie beschatten. Nachts gibt es jeweils eine Sperrstunde, eine übliche staatliche Maßnahme in Zeiten des Aufruhrs, was in CASABLANCA vom Polizeipräfekten offen ausgesprochen („We have a curfew here in Casablanca“), in BRAZIL durch eine Anmerkung von Abteilungsleiter Kurtzmann angedeutet wird („Come on. Before they turn the lights out“). Dazu passen auch die Suchscheinwerfer vor „Rick’s Café Américain“ bzw. in den Straßen der namenlosen Stadt gegen Ende des Films. Die Staatsdiener sind korrupt, was in CASABLANCA noch mit einer heute nicht mehr akzeptablen Nonchalance dargeboten wird „I’m only a poor corrupt official“, merkt Capitaine Renault an und in BRAZIL fast als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Jill befördert ein Paket, das keine Bombe enthält, wie Sam fälschlicherweise vermutet, sondern „a bribe for official monkeys like you“. Es geht dabei aber weniger um Käuflichkeit als um die Bereitschaft, alles zu tun, um eigene Fehler zu verschleiern oder sich auch nur der Gefahr auszusetzen, für Fehler anderer haftbar gemacht zu werden. Abteilungsleiter Kurtzmann kommt auf die verrücktesten Ideen, um den Scheck loszuwerden, der ihm von anderen untergejubelt wurde („Perhaps we can lose it behind the filing cabinet … or destroy it … burn it … eat it …“).

Die Zahl der üblichen Verdächtigen hat sich in BRAZIL dramatisch erhöht, denn hier ist jeder verdächtig, der den Staatsapparat auf sich aufmerksam macht. Es ist unmöglich, die Guten von den Bösen zu unterscheiden, denn es ist eine Welt ohne Nazis wie Major Strasser oder Helden wie Victor László (Paul Henreid), auch wenn dies der Bevölkerung suggeriert wird. Die Herrscher um den höchsten im Film auftauchenden Repräsentanten des Staates, Eugene Helpmann, sind die Veteranen des Zweiten Weltkriegs, und sie blicken daher mit sentimentalen Gefühlen auf die Vergangenheit. CASABLANCA positionierte sich schon 1942 auf ihrer Seite, sagte frühzeitig den Sieg der Guten über die Bösen voraus. Dass sich die vormals Guten im Laufe der Zeit immer mehr in Richtung der ehemals Bösen entwickelt haben, wird in der Gesellschaft nicht erkannt, die mithilfe der Unterhaltungsfilme im Fernsehen betäubt wird. In Komödien wird gelacht, in Musicals wird getanzt und gesungen und in Western triumphiert das Gute über das Böse wie auch in CASABLANCA.

BRAZIL übernimmt visuell etliche Details, die schon in CASABLANCA vorgekommen sind. Da sind zunächst die Propagandaposter, die auf Plakate aus dem Zweiten Weltkrieg Bezug nehmen und überall auftauchen. Auch in CASABLANCA findet sich gleich zu Beginn ein solches Plakat, wenn einem fliehenden Mann in den Rücken geschossen wird direkt vor einem großen Poster des mit den deutschen Besatzern kollaborierenden französischen Staatschefs des Vichy-Regimes, Marschall Philippe Pétain. Der darauf stehende Slogan „Je tiens mes promesses, même celles des autres“ („Ich halte meine Versprechen, auch die anderer“) ist ein zynischer Kommentar zur dargestellten Polizeiaktion gegen die innerfranzösische Opposition um General Charles de Gaulle. Zynische Plakate sind auch in BRAZIL allgegenwärtig: „Don’t suspect a friendreport him!“ ruft zur Denunziation von Freunden auf, während den Bürgern gleichzeitig die heile Welt vorgegaukelt wird: „Happiness We’re all in it together!“ Es ist sicher kein Zufall, dass es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Marschall Pétain und Deputy Minister Helpmann gibt, zwei alte Männer mit einem weißen Schnäuzer, die schon im vergangenen Krieg gekämpft haben und nun an der Spitze des Staates stehen. Sie glauben, weiterhin alles unter Kontrolle zu haben, obwohl sie längst vom Zeitgeist überholt worden sind. Beide Männer erkennen nicht, dass sie nur noch Marionetten sind, einerseits von Gnaden der Nationalsozialisten, andererseits des konturenlosen Staatsapparats.

 

Ein Ausspruch Major Strassers gegenüber Elsa Lund (Ingrid Bergman) „My dear, perhaps you have already observed that in Casablanca human life is cheap” lässt sich mühelos auf die Welt von BRAZIL übertragen. Ein Menschenleben ist nichts mehr wert, weshalb die Menschen völlig abstumpfen. In „Rick’s Café Américain“ kommt es nicht zum ersten Mal zu einer öffentlichen Festnahme; auf die Ankündigung von Capitaine Renault antwortet Rick Blaine mit einem leicht genervten „What, again?“. Renaults weitere Erklärung „Out of my high regard for you we are staging it here. It will amuse your costumers” erweist sich als besonders zynisch, wenn man bedenkt, dass es in der Folge zu einer Schießerei zwischen dem Verdächtigen Ugarte (Peter Lorre) und den Sicherheitsbeamten kommt, die nicht nur die Polizisten, sondern auch die Gäste im Café in konkrete Gefahr bringt. Sodann wird Ugarte abgeführt, Rick spricht ein paar Worte („I’m sorry there was a disturbance, folks, but it’s all over. Everything is all right. Just sit down and have a good time. Enjoy yourself.”), und danach wird sich weiter amüsiert. Diese Szene spiegelt sich in der Restaurant-Szene in BRAZIL wider, als Sam und seine Tischgenossen nach einer Bombenexplosion wenige Meter von ihnen entfernt gar nicht einmal beruhigt werden müssen, sondern ungerührt weiteressen, bis sich der Kellner sogar noch für die Unannehmlichkeiten entschuldigt („I am sorry, Madam … I don’t know what to say … this very rarely happens to us – I’ll do what I can straightaway.”).

Und sogar der Ausgangspunkt aller Geschehnisse in BRAZIL das Erschlagen des Insekts zu Beginn durch den Beamten im Informationsministerium findet seine Entsprechung im Film von Michael Curtiz, wenn Signor Ferrari (Sydney Greenstreet), der Betreiber des „Blue Parrot“, bei zwei Gelegenheiten beiläufig mit der Fliegenklatsche zuschlägt. Das Leben jeglicher Lebewesen ist in CASABLANCA und BRAZIL nicht viel wert.

2. Der Tod des Verhafteten

Die Handlung von CASABLANCA wird dadurch in Gang gesetzt, dass zwei deutsche Kuriere ermordet und beraubt werden. Die erbeuteten Transitvisa können dazu eingesetzt werden, einen Flug nach Lissabon zu bekommen. Ugarte ist der Täter, der die Visa höchstbietend verkaufen will, sie aber vorher Rick zur kurzzeitigen Aufbewahrung anvertraut, bevor er von der Polizei festgenommen wird. BRAZIL beginnt mit einem Fehler beim Ausdrucken von Haftbefehlen, was zur Festnahme des unbescholtenen Schuhmachers Archibald Buttle führt.

Der Zuschauer erlebt die Festnahmen von Ugarte und Buttle zu Beginn der Filme. Der Polizeieinsatz in CASABLANCA ist geradezu naiv im Gegensatz zum Vorgehen der vollausgerüsteten Sicherheitsbeamten in BRAZIL. Oder um es anders auszudrücken: Die Verantwortlichen in der Welt von BRAZIL haben die Lektion aus CASABLANCA gelernt, wo Ugarte auf die Polizeibeamten schießt und dadurch die Gefahr einer schweren Verletzung besteht.

Auf dem Selbstschutz der Sicherheitskräfte bei Festnahmen liegt inzwischen die größte Aufmerksamkeit, denn nur so können sie die ungeheure Effizienz beibehalten, die beide Filme bezüglich der polizeilichen Maßnahmen behaupten. Kaum wird von den getöteten Kurieren berichtet, teilt Capitaine Renault Rick mit, dass der Täter am Abend in seinem Lokal festgenommen werden wird. Man weiß nicht nur, wer der Täter ist, sondern sogar, wo er an diesem Abend sein wird. Die Arbeit der Sicherheitsorgane muss bestens funktioniert haben wenn auch nicht ganz so gut wie in BRAZIL, denn hier stürmen etliche Sicherheitskräfte die Wohnung der Buttles und nehmen den Familienvater fest, nur Sekunden nachdem die Fliege in den Drucker gefallen war.

Es dauert nicht lange, bis der Zuschauer erfährt, dass die beiden Verhafteten die Zeit im Staatsgewahrsam nicht lange überlebt haben. Beide Männer haben außer diesem Schicksal nicht viel gemeinsam. Ugarte war offenbar schuldig und wurde mit großer Wahrscheinlichkeit zu Tode gefoltert. Capitaine Renault beschreibt die Todesursache später gegenüber Victor László und Elsa Lund so: „We haven’t quite decided yet whether he committed suicide or died trying to escape.” Währenddessen ist der Tod Buttles ein tragischer Zufall, eine Verkettung unglücklicher Umstände, die vom Tod eines Insekts zum Tod eines Menschen führen. Auch Buttle wird zwar gefoltert, aber nicht bewusst getötet, denn dem Vernehmungsbeamten Jack Lint (Michael Palin) lag nun einmal die falsche Akte vor: „There are very rigid parameters laid down to avoid that sort of thing happening. It wasn’t my fault Buttle’s heart condition didn’t show up on Tuttle’s file.”

In beiden Filmen führt der Tod von Nebenfiguren dazu, die Hauptfigur in eine Position zu versetzen, vorübergehend in den Besitz eines Dokuments zu kommen, und zwar dadurch, dass sie einer anderen Person einen Gefallen tut: Rick versteckt für Ugarte die geraubten Visa; Sam nimmt von Kurtzmann den Entschädigungsscheck entgegen, um ihn zu Mrs. Buttle (Sheila Reid) zu bringen. Das Geschehen nimmt Fahrt auf.

3. Der einsame Held

Rick Blaine ist ein desillusionierter Amerikaner, in Casablanca gestrandet, wo er ein Lokal betreibt. Er hat in der Vergangenheit bei militärischen Konflikten in Spanien und Äthiopien als Söldner auf Seiten der Schwachen und Unterdrückten gekämpft und musste vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris aus der Stadt fliehen, weil sein Name auf der Schwarzen Liste der Nazis stand. Sein Einsatz für eine gerechtere Welt endete jedoch spätestens mit dem Ende seiner Zeit mit Elsa Lund und dem Rückzug mit einem gebrochenen Herzen in die Wüste Französisch-Marokkos: „I’m not fighting for anything anymore except myself. I’m the only cause I’m interested in.” Sam Lowry arbeitet im Archiv des Informationsministeriums, ein kleines Rädchen im System, obwohl seine überdurchschnittliche Begabung und beste familiäre Beziehungen in höchste staatliche Kreise einen anderen Karriereweg vorgezeichnet hatten. Er hegt keinerlei beruflichen Ambitionen, will auch ansonsten nicht aus seiner rein passiven gesellschaftlichen Rolle heraustreten. Sam lebt in seinen Träumen, wo er mit seiner Traumfrau durch die Lüfte schwebt und gegen übermächtige Gegner kämpft. Seine Gefühlswelt existiert fast nur in der Fantasie, in der realen Welt lebt er allein und zurückgezogen in einem kleinen Apartment.

Die gegenwärtige Situation beider Charaktere ist somit vergleichbar, denn beide haben sich in ihr Innerstes zurückgezogen; die Grausamkeiten direkt vor ihrer Nase lassen sie gänzlich unberührt zurück. Aus Humphrey Bogarts „I stick my neck out for nobody“ und „The problems of the world are not in my department“ wird bei Sam als er im Restaurant aufgefordert wird, etwas gegen die Bombenanschläge zu unternehmen folgerichtig: „It’s my lunch hour. Besides, it’s not my department.“ (In der Drehbuchfassung von Gilliam und Alverson wird Sam im Restaurant von seiner wütenden Mutter gefragt: „Really, Sam, can’t you do anything about these terrorists?”, woraufhin er antwortet: „I’m only a records clerk, mother.” Tom Stoppards Veränderung zu „It’s my lunch hour. Besides, it’s not my department“ berührt kaum die inhaltliche Aussage, dass sich Sam für nicht zuständig erklärt, weist aber durch die Verwendung des Wortes „department“ subtil in Richtung Rick Blaine und CASABLANCA.)

Trotz ihrer Einsamkeit und der fehlenden generellen Ambition, die Welt besser zu machen, wird im Verhalten beider Männer deutlich, dass ihr Herz sehr wohl noch am rechten Fleck schlägt. Bei Rick zeigt dies sein Einsatz für die bulgarische Emigrantin, die sich mangels finanzieller Möglichkeiten mit dem Gedanken trägt, für zwei Visa mit dem armen, korrupten Beamten Renault ins Bett zu gehen. Er lässt ihren Ehemann beim Roulette so viel Geld gewinnen, dass beide die Tickets von Renault kaufen können. Sam erkennt, dass Buttle tot ist und deswegen den Entschädigungsscheck nicht mehr selbst in Empfang nehmen kann. Dessen Ehefrau hat aber kein Bankkonto, so dass er anbietet, ihr den Scheck persönlich zu übergeben eine kleine menschliche Geste in einer unmenschlichen Welt.

Es ist genau in diesem Schlüsselmoment, in dem die paar Takte von „As Time Goes By“ erklingen und man aus dem Hintergrund die Worte „Here’s looking at you, kid“ hört. Die Verwendung dieses Satzes an dieser Stelle ist unter verschiedenen Aspekten bemerkenswert. Zunächst einmal, weil eine Dialogzeile aus einem anderen Film in das Geschehen einbezogen wird, ohne einen direkten Bezug zur laufenden Szene zu haben, ein völlig außergewöhnlicher Vorgang. Schon dies verdeutlicht, dass dieser Film von besonderer Bedeutung für das Geschehen sein muss. Und so wie CASABLANCA plötzlich ein Teil von BRAZIL wird, infiziert Humphrey Bogart zu diesem entscheidenden Zeitpunkt der Geschichte Sam Lowry, wenn seine Stimme aus dem Hintergrund spricht: „Here’s looking at you, kid“. Nicht mehr Ingrid Bergman, nein, Sam ist nun der Adressat des Satzes, auf ihn wird geschaut, auf ihn wird geachtet, er wird beschützt. Dies geschieht in dem Moment kurz vor der ersten Begegnung mit Jill, in dem seine Mission beginnt, auch wenn er selbst noch nicht weiß, dass der Sam Lowry, der das Ministerium verlässt, nicht mehr vergleichbar ist mit dem Sam Lowry, der zurückkehren wird. Dieser neue Schutzpatron und Unterstützer ist natürlich nur ein weiteres Fantasieprodukt Sam Lowrys, gleichzeitig ein Verweis auf Woody Allens Theaterstück Play it again, Sam (1969).

Aber Sam empfindet sich nicht nur als der Beschützte, er ist selbst der Beschützer seiner neuen Liebe. Ihrem Wohlbefinden gilt fortan sein hauptsächliches Interesse. In CASABLANCA ist „Here’s looking at you, kid“ schließlich ein wiederkehrendes Element, mit dem Rick Blaine seiner Elsa Lund seine Liebe versichert. Es lässt tief blicken, dass Sam Lowry den Satz hingegen gerade nicht etwa gegenüber seiner Traumfrau Jill Layton verwendet, sondern gegenüber seinem verweichlichten Vorgesetzten Kurtzmann. So sehr sich Sam auch mit dem romantischen Helden Humphrey Bogart identifizieren mag, so wenig scheint er diesem Vorbild gerecht werden zu können. Schon sein Vorname verweist nicht auf Bogarts Rick, sondern auf seine Verwandtschaft zum Klavierspieler Sam (Dooley Wilson), dem in CASABLANCA keine eigene Geschichte zugestanden wird. Er ist der treue Freund und Angestellte Ricks, der zusammen mit ihm von Paris nach Casablanca geht. Er ist ein Spielball der Geschehnisse, nicht deren Initiator. Rick veräußert seinen Vertrag ebenso an Signor Ferrari wie die Kontrakte der anderen Angestellten ohne Rücksprache. Beide Sams werden im Laufe der Handlung trotz ihres Alters als „boy“ angesprochen. In CASABLANCA sagt Elsa zu Louis Renault: „Capitaine – the boy who is playing the piano – somewhere I have seen him.” Was hier noch als zeittypische rassistische Bezeichnung für einen erwachsenen Farbigen gemeint sein wird, verweist in BRAZIL auf das Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen einem Sicherheitsbeamten und einem normalen Bürger, wenn Sam im Untergeschoss des Ministeriums angehalten wird: „Boy, come out of there.“

Weiterhin klingt in „Here’s looking at you, kid” in Anbetracht des agierenden Überwachungsstaates Orwells „Big Brother is watching you!“ an. Der Große Bruder ist nicht Humphrey Bogart, der an seiner Seite steht, sondern der Staatsapparat, dessen Augen in kürzester Zeit auf Sam gerichtet werden sein, ohne dass ihm dies richtig bewusst wird. Es wird deutlich, dass in dem Augenblick, in dem sich Sam für eine andere Person interessiert, der Staat sich auch für ihn interessiert. Die Zeit seiner emotionalen Selbstisolation ist endgültig vorbei. Und schließlich lässt sich die hervorgehobene Verwendung des berühmtesten CASABLANCA-Zitates so interpretieren, dass die Filmemacher von BRAZIL und in erster Linie Tom Stoppard freimütig bekennen, von welchem Film sie sich beim Verfassen des Drehbuchs besonders inspirieren ließen.

4. Das (Wieder-) Auftauchen der Traumfrau

In CASABLANCA erscheint Elsa Lund an der Seite des Freiheitskämpfers Victor László in „Rick’s Café Américain“. Die alten Wunden brechen auf, und da László die Transitvisa benötigt, um durch eine Flucht nach Amerika seine Arbeit gegen den Faschismus fortsetzen zu können, hat Rick es in der Hand, über die weitere Zukunft seiner großen Liebe und ihres Ehemannes zu entscheiden. In BRAZIL ist Sam Lowry gerade mit der Melodie von „As Time Goes By“ im Ohr zu Mrs. Buttle aufgebrochen, da erkennt er in der Nachbarin Jill Layton die Frau seiner Träume. Seine Lebensgeister erwachen, so dass er sogar eine Beförderung akzeptiert, um mehr über sie zu erfahren. Spätestens die Information seines Freundes Jack Lint, dass Jills Name auf der Fahndungsliste steht, führt dazu, dass Sam alles in Bewegung setzt, um die vermeintliche Terroristin zu retten.

Nicht nur die Traumfrau taucht unerwartet im Heim des Helden auf, fast gleichzeitig erscheint ein Mann auf der Bildfläche, der einen großen Einfluss auf Rick bzw. Sam hat. Der Name des berühmten tschechischen Widerstandskämpfers Victor László ist Rick vertraut und er versucht gegenüber Renault erst gar nicht, seine Bewunderung für diesen Mann mit hohen Idealen zu verstecken, der sich offen gegen die Nazis stellt und ihnen schon diverse Male entwischen konnte. Seine Prinzipien werden von Rick geteilt und führen schließlich dazu, sie seinem eigenen Glück unterzuordnen. In BRAZIL steht Heizungsmonteur Harry Tuttle (Robert De Niro) plötzlich in Sams Wohnung, ein Freigeist, der sich nicht den Regularien unterordnen will und der wie Sam bereits erfahren hat mit einem Haftbefehl gesucht wird. Auch er hat seine Verfolger schon mehrfach überlistet und gilt als Saboteur, obwohl er das genaue Gegenteil dessen verkörpert. Tuttle hat keinerlei politische Agenda, sondern lebt sein Leben außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen, was ihn allein schon zum Staatsfeind macht. Sam ist von seinem Lob geschmeichelt („Thanks, Lowry, you’re a good man in a tight corner”) und bezeichnet ihn bereits nach ihrer zweiten kurzen Begegnung als Freund, was Tuttles exponierte Rolle in der abschließenden Fantasiesequenz nachvollziehbar macht.

Die Rückkehr der Traumfrau bzw. das erstmalige Auftauchen einer Frau mit ihren Gesichtszügen setzen jeweils die folgenden Entwicklungen in Gang. Bogarts Rick wird durch seine Liebe zu Ingrid Bergmans Elsa in die Auseinandersetzung zwischen den Nazis und dem Widerstand hineingezogen; er muss bewusst Stellung beziehen, um sie retten zu können. Der Träumer Sam Lowry nimmt dagegen nur an, seine Traumfrau repräsentiere eine Seite in dem tobenden Kampf, da für ihn die Information, dass sie auf der Fahndungsliste steht, gleichbedeutend ist mit einer Einstufung als Terroristin. Sam stellt sich auf ihre Seite, doch seine kopflosen Aktivitäten machen Jill erst endgültig zu einer Person, die als Staatsfeindin angesehen wird.

Jill Layton hat zwar die Gesichtszüge von Sams Traumprojektion, schwebt aber nicht mit ihm im (siebten) Himmel, sondern sitzt in einer Badewanne mit schmutzigem Wasser. Sie ist eine alleinstehende Frau, die sich nicht in Abhängigkeit eines Mannes begibt, womit sie sich fundamental von Elsa Lund unterscheidet. Ingrid Bergman verkörpert eine Figur, die über die Beziehung zu Männern definiert wird, was so weit geht, dass sie irgendwann gar nicht selbst entscheiden will, sondern ihr Schicksal und damit sogar das Schicksal ihres Ehemannes und dessen Kampf gegen den Faschismus in die Hände ihres ehemaligen Geliebten legt, eines Zynikers mit gebrochenem Herzen („I don’t know what’s right any longer. You’ll have to think for both of us, for all of us“). So etwas wäre bei Jill unvorstellbar, die von ihrer Umgebung so abgestoßen ist, dass sie gegen menschliche Berührungen allergisch ist. Beide Frauen vereint ein herzensguter Kern, der sich in ihren Handlungen widerspiegelt. Elsa entscheidet sich im Großen gegen ihre Liebe und für die gute Sache, während Jill sich im Kleinen für Mrs. Buttle und gegen die Ungerechtigkeit der Staatsmacht einsetzt und sich nach einer Explosion nicht abwendet, sondern den Verletzten zur Hilfe kommt.

Sam Lowry wähnt sich derweil in derselben Situation wie Rick in CASABLANCA und ist naiv davon überzeugt, ganz natürlich dem Happy End entgegenzufahren, denn „The world will always welcome lovers“. Er ist fortan nicht mehr ein kleines Rädchen im System, er ist der romantische Held, der die Liebe seines Lebens vor der Gefahr bewahren will, in der sie schwebt. Auf seiner Mission, seine Traumfrau zu retten, kann wirklich niemand Sam aufhalten nicht einmal sie selbst. Er weiß, auch Humphrey Bogart musste sich von Ingrid Bergman beschimpfen lassen („You’re a coward and a weakling”), und so prallt alles an ihm ab, wenn Jill ihm mit Worten („Get off of me!“ – „You’re not something very special.“ – „Asshole!” – „Official monkey.” – „No sense of reality“ – „You’re paranoid“) und Taten deutlich macht, dass seine Anwesenheit nicht erwünscht ist. Er träumt von einer Fahrt in eine gemeinsame Zukunft, so wie Elsa und Rick glücklich und verliebt in einem Cabrio mit wehenden Haaren durch Frankreich fahren wohlgemerkt eine Rückblende (!), doch die gemeinsame Fahrt mit Jill in ihrem großen und offensichtlich katalysatorfreien Laster ist deren genaues Gegenteil. Rick nimmt Elsa beim Wort („You said I was to do the thinking for both of us. Well, I’ve done a lot of it since then and it all adds up to one thing”) und präsentiert ihr schließlich die Lösung des gemeinsamen Dilemmas. Kurz zuvor hatte er sie gebeten: „Please trust me“, eine Aufforderung, die sich Sam Lowry zu Herzen genommen hat, denn immer wieder äußert er dies gegenüber Jill. Sie bleibt skeptisch und muss zunächst miterleben, wie er ihre ohnehin missliche Lage durch seine unüberlegten und kindischen Handlungen weiter verschlimmert hat („Trust you? A man who hijacks my truck, loses me my job, has every security man in town looking for me? Of course I trust you“). Trotz dieser unmissverständlichen Erklärung des Misstrauens lässt Sam nicht locker in seinen Versuchen, seine Traumfrau und sein Glück zu retten. „I know a way to save you. Trust me“, fordert er vor dem Verlassen der Wohnung seiner Mutter letztmalig ihr Vertrauen ein, um sofort ihr Ansinnen „You can’t go without me“ zu ignorieren. Sam denkt in diesem Moment für beide, ohne je dazu aufgefordert worden zu sein. Er weiht wie Rick seine Geliebte nicht in seine Pläne ein, aber er nimmt es mit einem Gegner auf, der seine Feinde zerdrückt wie eine verirrte Fliege in einem Büro.

5. (K)ein Happy End

Rick spielt ein doppeltes Spiel mit dem Polizeipräfekten Renault, dem er vorspiegelt, er würde die Visa für sich und Elsa verwenden und ihm dafür László ausliefern. Auch gegenüber Elsa tut er so, als blieben beide zusammen, aber in letzter Sekunde überzeugt er sie, mit ihrem Ehemann das Land zu verlassen. Dann erschießt er Major Strasser und wird von Capitaine Renault gedeckt. Sam versucht alles, Jill zu retten, aber all seine Aktivitäten verschlimmern ihre Situation. Sie wird bei seiner Verhaftung erschossen. Er selbst landet schließlich im Folterstuhl Jack Lints.

Beide Hauptfiguren sehen die letzte bzw. einzige Chance darin, die Mächtigen zu manipulieren. Capitaine Renault fällt auf Ricks Täuschung herein, weil er ihn für ebenso egoistisch hält wie sich selbst („Apparently you’re the only one in Casablanca with less scruples than I“). Sam möchte zunächst mit Helpmann sprechen; als dies nicht gelingt, wendet er sich dem Computer in dessen Büro zu, auf dem er Jill Layton für offiziell tot erklärt. Am Ende der Filme sind die beiden Traumfrauen dann nicht mehr zugegen, Elsa ist gerettet, Jill ist tot. Das Schicksal beider Frauen geht zurück auf die Handlungen der Männer, die sich für sie eingesetzt, die für sie gedacht und denen sie (zumindest zuletzt) vertraut haben. Hollywood gewährt Elsa ein bittersüßes Ende, Gilliam lässt bei Jill den süßen Anteil weg. Insofern stellt BRAZIL alle Erfahrungen aus CASABLANCA auf den Kopf.

Das Ende beider Filme ist aber insofern identisch, als jeweils zwei Männer langsam aus der letzten Einstellung verschwinden. In CASABLANCA sind dies Rick und Capitaine Renault, mit dem unvergesslichen Satz: „Louis, I think this is the beginning of a beautiful friendship.“ Im Fall von BRAZIL handelt es sich dabei um den Stellvertretenden Minister Helpmann und Jack Lint, die den riesigen Foltersaal verlassen, wahrscheinlich ein weiterer Einfall von Tom Stoppard auf der Grundlage des bereits im ersten Drehbuchentwurf enthaltenen Schlussbildes. Der beginnenden Freundschaft setzt Terry Gilliam das Ende einer weniger schönen Freundschaft entgegen: Jack Lint ist in gewisser Weise das Äquivalent zu Louis Renault als die Figur, die mit dem Helden der Geschichte befreundet ist und sich letzten Endes zwischen ihren persönlichen Gefühlen und ihren beruflichen Pflichten entscheiden muss. Louis Renault wird Zeuge, wie Rick Major Strasser erschießt, lässt ihn jedoch nicht verhaften, sondern verbündet sich mit ihm und stellt sich zudem demonstrativ gegen das Vichy-Regime. Damit setzt er zumindest sein berufliches Schicksal aufs Spiel, denn schließlich ist gerade nicht nur der höchste Repräsentant der Nazis in Casablanca erschossen worden, sondern auch deren Staatsfeind Victor László entkommen. Jack Lint stellt sich hingegen gegen seinen Schulfreund Sam und auf die Seite der Staatsmacht, die von ihm verlangt, seine blutige Pflicht zu tun. So geht er am Ende mit Helpmann in Richtung Zukunft, während der gefolterte Held in seinem Stuhl sitzt und fantasiert, wie er neben Jill aus der Stadt heraus ins Grünen fährt. Auch insofern scheint CASABLANCA tief in der Psyche Sam Lowrys verankert zu sein, denn diese Szene verweist auf seine Vorstellung von Glück, auf Ingrid Bergman, die während der Autofahrt in Frankreich ihren Kopf an die Schulter des sie im Arm haltenden Humphrey Bogart legt. Aber auch hier ist Sam eben nicht Rick, denn nicht er steuert das Auto, nicht er hat seine Liebe vor den Verfolgern gerettet, sondern umgekehrt.

Sowohl CASABLANCA als auch BRAZIL haben zweifellos ein außergewöhnliches Ende. Beide Filme steuern auf eine finale Konfrontation zu, bei der eine typisches Hollywood-Ende nicht möglich ist, weil in den jeweiligen Situationen keine allseits befriedigende Auflösung denkbar ist. CASABLANCA gelingt es wie kaum einem anderen Film, aus einer unlösbaren Aufgabe das Optimale herauszuholen: Der noble persönliche Verzicht auf die große Liebe für die wichtigere Sache und das Erschießen des Nazis ohne unmittelbare Konsequenzen passten perfekt in den Zeitgeist der frühen 40er Jahre. Das Ende ist so happy, wie es infolge der Gesamtumstände nur sein kann. Ähnliches könnte man sogar von Terry Gilliams Ende von BRAZIL behaupten, aber weil die Welt böser und unerbittlicher geworden ist, gibt es kein Flugzeug nach Lissabon, kein vorübergehendes Untertauchen in Brazzaville, sondern nur noch die Flucht in die eigene Fantasie. Aber wenn am Ende eines Films die beiden Antagonisten zusammen zu dem Schluss kommen, dass der Held ihnen entkommen ist (Helpmann: „He’s got away from us, Jack.“ Jack: „Afraid you’re right, Mr. Helpmann … He’s gone.“), so ist dies gemeinhin ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich irgendwie um eine Art Happy End handelt. Hier ist es eben ein Happy End, in dem der Held wahnsinnig ist, die Heldin tot ist und die beiden Bösewichter wenn man sie überhaupt so nennen will gemeinsam aus dem letzten Bild gehen. Die offensichtlichen Happy Ends sind in der Welt von BRAZIL für die alten Filme im Fernsehen reserviert.

 

III.

Sowohl CASABLANCA als auch BRAZIL erzählen auf höchst unterschiedliche Weise dieselbe alte Geschichte, vom Kampf um Liebe und Ruhm, einen Fall von alles oder nichts. Aber am nächsten Morgen war die Hauptfigur aus BRAZIL meilenweit von dem Punkt entfernt, an dem ihr Vorbild endete. Während in CASABLANCA der Kampf um die Liebe trotz oder gerade wegen des noblen Verzichts letztendlich gewonnen wird (immerhin: „We’ll always have Paris“), verbleibt am Ende von BRAZIL die Erkenntnis, dass die reale Welt nicht immer die Liebenden willkommen heißt. Terry Gilliams (und Tom Stoppards) Meisterwerk ist insofern sowohl eine Verbeugung vor dem alten Hollywood und CASABLANCA als auch ein Anti-Hollywood-Film und ein Anti-CASABLANCA.

„Tomorrow was another day
The morning found me miles away
With still a million things to say”

(„Brazil“ von Ary Barroso)

Jochen Thielmann
(Gastautor)

 

 

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