SPEKTAKULÄRE ENTDECKUNG – Erster Gore-/Splatter-Effekt im Film?
Dieser Fund wird nicht nur Horror- und Splatterfilmfans überraschen, auch Filmhistoriker müssen ihre Analysen hinterfragen. Nimmt man es genau, müssten einige Wikipedia-Einträge, Artikel und Filmbücher neu geschrieben werden.
Jahrzehntelang war man sich unter Cineasten einig, dass ein paar Fakten der Filmgeschichte unumstritten fest stehen: Die erste Splatterszene in einem Film habe Luis Buñuel mit seinem Avantgarde-Film EIN ANDALUSISCHER HUND (1928) abgeliefert. Wir sehen ein Rasiermesser das einen Augapfel in der Mitte teilt – Augenflüssigkeit läuft aus. Ebenfalls unumstritten schien bisher, dass Herschell Gordon Lewis 1963 den Begriff des „Gorefilms“ definierte und mit BLOOD FEAST (1963) ein neues Subgenre des Horrorfilms schuf. Aber stimmt das wirklich? Oder zeugen diese seit Jahrzehnten wiederholten „Fakten“ nicht einfach nur von Unkenntnis der Filmgeschichte? Nun kann man niemandem vorwerfen, dass er nicht jeden Film der vergangenen 121 Jahre gesehen hat. Dass man aber mit Definitionen wie „der erste“ oder „zum ersten Mal“ vorsichtig umgehenmuss, zeigt folgender bemerkenswerter Fund unserer Redaktion.
Bereits 1918 – also 10 Jahre vor EIN ANDALUSISCHER HUND – sehen wir folgende Szene in einen Stummfilm (!): Ein Haus fällt unter dem Angriff deutscher Soldaten durch eine Granate in sich zusammen. Ein riesiger Steinbrocken des Hauses trifft den alten Hausherrn genau in der Mitte seines Körpers und spaltet ihn. Seine Tochter (Lillian Gish) findet den Vater, und der Zuschauer sieht, was sie sieht: Der Mann wurde genau an der Hüfte in zwei Teile getrennt. Wir sehen links im Bild seine Beine, in der Mitte den Felsbrocken und rechts seinen Oberkörper von unten (also seine Därme). Eine Szene, die dem aufmerksamen Horrorfan sofort bekannt vorkommt und die wir im modernen Splatterfilm seit Jahrzehnten immer wieder gezeigt bekommen. Nichts Neues also – aus heutiger Sicht. Aber vor 98 Jahren?! Wer hatte den Mut, die Gräuel des Krieges so plakativ und reißerisch zu zeigen? Es war kein Geringerer als David Wark Griffith in seinem Antikriegsdrama HEARTS OF THE WORLD (1918) – damals ein Blockbuster mit Staraufgebot.
Im Grunde müsste man die Filmgeschichte neu bewerten und Buñuels EIN ANDALUSISCHER HUND in diesem Sinne durch Griffiths HEARTS OF THE WORLD ersetzen. HEARTS OF THE WORLD ist in seiner Gewaltdarstellung auch ansonsten nicht zimperlich. Spontan ist man geneigt, dem Film zu bescheinigen, der bis dahin brutalste Streifen der noch jungen Filmgeschichte zu sein, aber damit wollen wir in Zukunft vorsichtiger sein. Wer weiß schon, ob sich nicht ein noch derberer Schocker aus dem Jahr 1917 auffindet?
Jörg Mathieu