FESTIVALREPORT: 57. Nordischen Filmtage Lübeck

Als Ende des 19. Jahrhunderts der Film geboren wurde, hatte die altehrwürdige Hafenstadt Lübeck ihre internationale Bedeutung als Handelsknoten bereits lange verloren. Einstmals eine der dominierenden Hansestädte, steht der Name Lübeck heute in erster Linie für Marzipan. Nichtsdestotrotz hat sich in diesem schmucken Städtchen schon vor Jahrzehnten eines der ältesten Filmfestivals Deutschlands niedergelassen. 2015 feiern die Nordischen Filmtage Lübeck ihren 57. Geburtstag, das heißt die Formierungsjahre des Festivals fallen sogar noch in den Zeitraum bis 1965, den wir bei 35 Millimeter behandeln.

Neben den Highlights der aktuellen Jahresproduktion aus dem nordischen Raum (Lübeck ist das einzige Festival Europas mit diesem Schwerpunkt) werden jedes Jahr auch historische Filme im Rahmen einer Retrospektive gezeigt. Seit nunmehr sieben Jahren kümmert sich Jörg Schöning um diese Programme. Bisher wurden dabei abwechselnd filmische Erforschungen von nordischen Landschaften (Grönland, Lappland, Spitzbergen) und bestimmten Genreformationen unternommen. Dieses Jahr ist daraus eine Synthese der beiden Elemente entstanden. Sah das ursprüngliche Konzept noch ein Programm aus Travelogues über Reisen in den europäischen Norden vor, wurde es schließlich durch Roadmovies erweitert, die in gewisser Weise die Motive dieser früheren Reisefilme aufgreifen und transformieren.

Die Retrospektive lässt sich also sowohl zeitlich wie auch thematisch bequem in zwei Hälften teilen, richtig spannend wird es allerdings erst wenn man Bezüge zwischen ihnen herstellt. Aber welche Bezüge lassen sich überhaupt ziehen zwischen so unterschiedlichen Werken, wie den rohen Filmaufnahmen Richard Fleischhuts, der auf Kreuzfahrtschiffen als Bordfotograf arbeitete und einem exzentrischen Autorenfilm wie Aki Kaurismäkis Tatjana (1994 – Pidä huivista kiinni, Tatjana), zwischen einem touristischen Werbefilm der Stummfilmzeit wie Norwegen, unser Norwegen (1929 – Norge, vårt Norge) und einem aktuellen Roadmovie eines deutschen Twens wie Hit the Road Gunnar (2014). Die Antwort: Mehr als man glauben sollte. Die Faszination für die Landschaften des Nordens ist in allen diesen Filmen evident. Deshalb beschränken sie sich nicht nur darauf sie als Handlungsort zu nutzen, sondern machen sie selbst zu einem bestimmten Element des Films. Natürlich kommt das in einem Film wie Friðrik Þór Friðrikssons The Ring Road (1985 – Hringurinn) stärker zur Geltung als in einem Thriller von Mika Kaurismäki, und doch ist die motorisierte Fortbewegung (egal ob per Schiff, per Bahn oder per Automobil) durch den Norden ein solch starkes Motiv, dass es imstande ist selbst eine so heterogene Masse an Filmen zu verbinden. Die hypnotischen Aufnahmen der wogenden Wellen in den Filmen Richard Fleischhuts korrespondieren mit den desorientierenden Zeitrafferaufnahmen in grün, blau und braun von The Ring Road und den Zugfahrten in düsterem Halblicht in Peter Lichtefelds Zugvögel … Einmal nach Inari (1997). Die Nordischen Filmtage 2015 präsentieren vor allem ein Programm, das mehr zum Beobachten und Begutachten einlädt als zum Mitfiebern, mit Filmen die stärker der filmischen Tradition des Zeigens verpflichtet sind, als dem klassischen Erzählmodus des fiktionalen Filmschaffens.

Rainer Kienböck

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